Stadtviertel Giesing
Schlagzeilen und Erinnerungen
Giesing, mit dem Namen dieses Münchener Vororts werden viele Erinnerungen und Ereignisse verknüpft:
Glasscherben-Viertel, Arbeitervorort, Sozi- und Kommunistenhochburg, Heimat der "60-er", Geschichten über "Kaiser Franz" und von Sigi Sommer und Werner Schlierf, die Figuren von Kare und Lucke, vom Giesinger Strizzi oder Stenz. Als heranwachsender Jugendlicher ging man einem "Loh-" oder "Winterstrassler" tunlichst aus dem Weg. Selbst der verstorbene Dekan Fritz Wiegele, auch ein Giesinger "Gwachs", pflegte den Autor, auch ein Giesinger seit Geburt, noch als Familienvater und Kirchenpfleger von Hl. Kreuz mit "Ja, Du alter Giesinger Bazi" zu begrüßen. Dies zum "Milieu" von Giesing. Vieles ist heute nur noch Nostalgie und eine Verklärung der Vergangenheit.
Ein paar Stichpunkte und Daten dürfen den geschichtlichen Hintergrund dieses Zeitabschnitts ergänzen.
Aus dem Dorf Obergiesing wird 1854 bei der Eingemeindung nach München die "Vorstadt Giesing". Die Erhebung von Hl. Kreuz zur Stadtpfarrei erfolgte erst 1858. Im Dorf gab es 440 Häuser mit ca. 3.500 Einwohnern. Die städtische und wirtschaftliche Entwicklung der Folgejahre führte zu einem rasanten Wachstum der Bevölkerung. Am 1.12.1890 zählt der 17. Stadtbezirk Obergiesing 12.161 Personen, davon 11483 Katholiken, der inzwischen abgetrennte 18. Stadtbezirk Untergiesing-Harlaching 12.099 Personen. 1939 hat sich die Einwohnerzahl in Obergiesing auf 24.253 verdoppelt und ist 1963 nochmals auf 48.323 angestiegen.
Die Gründe für dieses Wachstum sind vielfältig: Bis zum 1. Weltkrieg drängten viele ländliche Bewohner auf der Arbeitssuche nach München, die in den Vororten noch billigere Unterkünfte fanden. Die eisten "echten Münchner" von heute haben Großeltern aus Niederbayern und der Oberpfalz. Eine weitere Zunahme erfolgte nach dem 1.Weltkrieg durch die Ausweitung des Baulandes auf dem "Giesinger Oberfeld" (Walchenseeplatz, Perlacher Straße, "Kolbsiedlung" hinter dem Wettersteinplatz) und die Bebauung mit Wohnblöcken durch Genossenschaften und Gemeinnützige Gesellschaften. Der dritte Anlass war der Zuzug vieler Flüchtlinge nach dem 2. Weltkrieg.
Das gleiche Wachstum hatte natürlich auch die Pfarrei Hl. Kreuz. Bei der Eingemeindung war die alte Dorfkirche schon längst zu klein und erst der Neubau 1866-1886 brachte für die Gemeinde einen entsprechenden Kirchenraum.
Um 1900 betrug die Zahl der Katholiken 25.000, 1910 bei der Gründung des Kath. Gesellenvereins 30.000 und 1926 36.000. Eine nicht belegte Anekdote berichtet vom Besuch eines Giesinger Pfarrers in Rom, der bei der Papstaudienz mit Stolz die Größe seiner Pfarrei pries und als Antwort ein "divide et impera", teile und herrsche, erhielt.
Es erfolgte dann die Abtrennung und Gründung neuer Pfarreien: St. Franziskus 1928, Hl. Familie 1931, Königin des Friedens 1941, Hl. Engel 1948 und 1964 St. Helena. Die Veränderungen in der Bevölkerungsstruktur haben inzwischen zu einem Rückgang der Katholiken geführt. 2010 zählt Hl. Kreuz nur noch 6.300 Katholiken. Die jetzt diskutierte und laufende Planung einer Strukturreform der Pfarreien wird in Giesing vermutlich einige „Tochterpfarreien“ wieder mit ihrer "Mutterpfarrei" vereinen. Die Zeitgeschichte ist auch in Giesing nicht spurlos vorüber gegangen. Von den Verwicklungen nach der Revolution 1918 ist auch das Kolpingwerk auf tragische Weise betroffen: 21 Mitglieder des Gesellenvereins St. Joseph wurden am Karolinenplatz erschossen.
Giesing war 1919 im Mittelpunkt der Kämpfe der Regierungstruppen, der Freikorps und weißen Garden gegen die von der kommunistischen Räterepublik aufgestellte »Rote Armee« mit den bewaffneten Arbeitern. Auf dem Turm der Hl. Kreuz-Kirche stand ein Maschinengewehr der Rotarmisten, Kirchturm und Kirchendach wurden durch den Granatbeschuss der Freikorpstruppen beschädigt. Die Soldaten gingen rücksichtslos gegen Kämpfer und Zivilisten vor. Namentlich sind mindestens 161 Männer und Frauen bekannt, davon 47 allein in Giesing, die getötet, ermordet, ausgeplündert, gefangen genommen und standrechtlich erschossen worden sind.
Meistens waren es einfache Arbeiter und Handwerkergesellen, aber auch ein Mathematikprofessor vom heutigen Maria-Theresia-Gymnasium war dabei, angeblich wegen Aufhetzung der Bevölkerung.
Ein weiteres Beispiel für den wechselhaften Ablauf der Geschichte ist das Grundstück, auf dem heute das Pfarrheim von Hl. Kreuz steht, das seit 1983 auch Heimat der Giesinger Kolpingsfamilie ist. Vermutlich um die Jahrhundertwende wurde hier die Gaststätte „Kriegerheim“ gebaut. Nach dem 1. Weltkrieg war sie das Vereinslokal der KPD und ab 1933 dann Treffpunkt der SA und NSDAP in Giesing; die "Untere Grasstraße" wurde in Alois-Jegg-Straße umbenannt, einem Gründungsmitglied der SA in Giesing.
Dies sind einige Schlagzeilen und Erinnerungen aus den Jahren, in denen die Kolpingsfamilie am Leben und den Schicksalen der Giesinger beteiligt war und vieles auch miterlebt und mit gestaltet hat.
Heinz Haftmann
Publikationen
- Haftmann, Heinz: Das Dorf Obergiesing: Eine Chronik der bäuerlichen Anwesen und ihrer Besitzerfamilien, München 2013,
ISBN: 978-3-86906-509-0 - Haftmann, Heinz (Hg.): Chronik von Obergiesing, aufgezeichnet von Johann Nepomuk Silberhorn, Pfarrer in Obergiesing 1819-1842, München 2015